KGS/Neitzel16

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Diese Rede wurde gehalten von Prof. Sönke Neitzel, anlässlich des ersten Jahresempfanges des Volksbunds Deutsche

Kriegsgräberfürsorge in Berlin am 23. Februar 2016.

Sehr geehrter Herrn Staatssekretäre, Exzellenzen, lieber Herr Meckel, meine sehr geehrten Damen und Herren,

meinen ersten Kriegsgräberfriedhof besuchte ich zusammen mit Onkel Erwin. Im Juni 1984, wenige Tage nach dem großen Rummel des Reagan-Besuchs in der Normandie standen wir in Marigny, westlich von Saint Lo, am Grabe seines Kompaniechefs. Onkel Erwin blickte still und nachdenklich auf die schlichte Grabplatte. Ich war damals 15 Jahre alt und fragte ihn nach einer Weile, woran er nun denke. Onkel Erwin sagte: „Er hat sich um uns 18-jährige Bengel wie ein Vater gekümmert. Er war lange an der Ostfront und beruhigte uns, wenn ein amerikanischer Angriff bevorstand“. Wir standen noch eine ganze Weile schweigend an dem Grab.

Onkel Erwin wurde am 17. Juli 1944 schwer verwundet worden. Wir haben auf unserer Reise in die Normandie noch die halb zugeschüttete Stellung gefunden, in der ihm Granatsplitter den Bauch aufrissen. Er überlebte knapp und wusste sich später mit der ihm eigenen Gerissenheit einem weiteren Fronteinsatz zu entziehen.

Nur wenige Wochen zuvor, im Mai 1984 hatte Helmut Kohl mit Ronald Reagan den Soldatenfriedhof Bitburg besucht. Die Empörung war damals groß, weil unter den 2000 dort begrabenen Soldaten auch 59 Angehörige der Waffen-SS lagen, vor allem von der 17. SS-Division „Götz von Berlichingen“, in der auch Onkel Erwin und sein Kompaniechef kämpften.

Damals habe ich die Komplexität der Dinge nicht wirklich verstanden, die Dimensionen des Zweiten Weltkrieges, vor allem auch die Rolle, die Waffen-SS und Wehrmacht im Vernichtungskrieg spielten. Heute, mehr als 30 Jahre später, ist das natürlich anders. Über die Waffen-SS als Institution haben wir mittlerweile ein sehr genaues Bild und wissen, dass sie sich sehr wohl von der Wehrmacht unterschied, etwa im Hinblick auf die Ideologisierung ihrer Offiziere und Unteroffiziere. Längst wissen wir aber auch, dass die Wehrmacht ein wichtiger Teil des NS-Vernichtungskriegs gewesen ist. Ihre 17 Millionen Mitglieder bildeten die ganze Bandbreite der deutschen Gesellschaft ab: fanatische Mitglieder der Allgemeinen SS wie Theodor Habicht finden sich hier ebenso, wie kritische Geister. Man denke etwa an Alfred Andersch, nach dem Krieg einer der wichtigsten Angehörigen der Gruppe 47. Die Bandbreite deutet schon an, dass man die Wehrmachtsoldaten bei allem Wissen nicht nur auf Verbrechen reduzieren kann.

Eine große soziale Bandbreite gab es aber auch in der Waffen-SS, in der Mörderfiguren wie Theodor Eicke ebenso dienten wie ein Günter Grass. Das Rahmenpersonal der 17. SS-Division bestand aus altgedienten SS-Männern, Ostfrontveteranen der Division „Das Reich“ wie sein Kompaniechef, während die Mannschaften ganz junge Soldaten waren, meist Jahrgang 1925, so wie Onkel Erwin. Heute wissen wir, dass die Division Kriegsverbrechen in der Normandie beging und insgesamt wohl radikaler kämpfte als die Wehrmachtdivisionen. Genaueres ist vor allem von zwei Kriegsverbrechen bekannt, einem an französischen Zivilisten im Juli 1944 und einem an amerikanischen Gefangenen ganz zu Beginn der Schlacht in der Normandie. Es gibt Indizien, dass es wohl noch mehr Verbrechen gab und wir nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges kennen. Freilich: Was tausende Gefallenen der Division, die heute weit verstreut auf Friedhöfen in Frankreich und Deutschland liegen, im Einzelnen taten, dachten, erlebten ist heute praktisch nicht mehr zu rekonstruieren. Meist kennen wir von ihnen nur die Lebensdaten. Die allermeisten von ihnen haben wohl noch nicht einmal im Kampf einen Menschen getötet.

Wir können es uns mit unserem Erbe also nicht zu leicht machen. Böse Waffen-SS, gute Wehrmacht funktioniert ebenso wenig wie: dies waren alle Nazis und wir sind heute keine Nazis mehr, auch das ist allzu einfach. Das Handeln „ganz normaler Männer“ im Zweiten Weltkrieg weist in seiner Handlungslogik etliche Parallelen zu unserer heutigen Zeit auf. Und es ist wohl eine Illusion zu glauben, dass wir heute per se bessere Menschen geworden seien. Es gibt viele Faktoren, die erklären warum Menschen tun, was sie tun – damals wie heute. Rassismus und Antisemitismus sind gewiss nicht unterschätzen. Ob jemand tötete, gar zum Mörder wurde, hatte meist aber ganz andere Gründe. Dieser Komplexität müssen wir uns stellen, wir dürfen davor nicht die Augen verschließen, so wie das im Alltag von Erinnerungskultur und Politik gerne gemacht wird, um kontaminierte Themen zu umschiffen.

Angela Merkel und Gerhard Schröder besuchten auf ihren Normandiereisen 2004 bzw. 2014 ganz bewusst nicht La Cambe, den größten deutschen Friedhof dort, auf dem unter 22.000 Gefallenen auch der Hauptverantwortliche des Massakers von Oradour liegt. Sie besuchten lieber Ranville, wo 2.200 Gefallene der Commonwealth-Staaten liegen und 322 Wehrmachtsoldaten. Die Wahl fiel wohl auf Ranville, weil es keine Erkenntnisse über dort ruhende SS-Männer gab. Inzwischen wissen wir, dass auch dort SS-Angehörige liegen, wie auf fast allen deutschen Kriegsgräberstätten. Freilich sagt dies nichts darüber aus, ob wir dort Kriegsverbrecher vorfinden oder nicht. Wir wissen es schlicht nicht, ob dort Deutsche liegen, die sich Untaten haben zu Schulde kommen lassen. Im Übrigen: auch auf den alliierten Friedhöfen liegen wohl etliche amerikanische, kanadische, britische Soldaten, die Gefangene ermordeten, Frauen vergewaltigten. Diese Dimension ist in der Forschung zwar schon thematisiert, in der Erinnerungspolitik der Amerikaner und der Commonwealth-Staaten aber noch nicht angekommen.

Ich würde jedem deutschen Politiker empfehlen, sich ganz bewusst allen Seiten der deutschen Geschichte zu stellen und die Soldatenfriedhöfe sind dazu sehr gut geeignet. Der Volksbund versucht mit der Überarbeitung der Ausstellungen und Texttafeln seiner Friedhöfe – in enger Abstimmung mit dem wissenschaftlichen Beirat – diesen Weg zu gehen. Es kann nicht die Lösung sein, Friedhöfe mit missliebigen Toten zu meiden oder gar ihre Gräber zu entfernen. Im Gegenteil es muss auf deren Taten hingewiesen werden, es gilt diese in den Kontext von Krieg und Diktatur zu stellen.

Das Problem ist natürlich, dass es bei der Geschichtspolitik ja nicht um Geschichte, sondern um Politik geht. Es geht um positive Identitäten, es geht darum, politische Botschaften zu senden, die möglichst nicht missverstanden werden sollen. Geschichte ist dabei eine Art Wühltisch. Man sucht so lange darin herum, bis sich etwas Passendes findet. Für einen Wissenschaftler ist das immer unbefriedigend, weil wir uns ja gerade um die Komplexität bemühen, das Herausarbeiten der Grautöne. Diese Grautöne zu vermitteln, nicht nur in Täter/Opfer-Gegensätzen zu argumentieren, und letztlich zu erklären, wie Menschen im Krieg handelten, dies bleibt die große Aufgabe von uns allen.

Der Volksbund kann und wird dabei eine prominente Rolle spielen. Die von ihm betreuten Friedhöfe sind oftmals die letzten sichtbaren Spuren des Zeitalters der Extreme. Es sind Lernorte, auf denen sich die Geschichte von Krieg und Gewalt wie kaum an einem zweiten Ort erfahren lässt, weil sich dort die persönlichen Dimensionen der Weltkriege offenbaren. Und dies nicht nur von deutschen Soldaten, sondern auch von Soldaten anderer kriegführender Mächte, von Zwangsarbeitern, Deserteuren, Kriegsgefangenen, Zivilsten, Vertriebenen, Toten aus den sowjetischen Speziallagern – Gräber all dieser Gruppen sind auf den Friedhöfen des Volksbundes zu finden.

Ich sage es noch einmal: An kaum einem anderen Ort lässt sich die komplexe Geschichte des Krieges so gut erfahren wie hier. Beeindruckend war für mich etwa der Besuch des Friedhofs in Halbe, vor den Toren Berlins, ein Besuch, den ich Ihnen allen – so sie noch nicht dort gewesen sind – nur empfehlen kann. Gerade hier ist der Wahnsinn der Kämpfe am Ende des Krieges gut zu erfassen, auch weil dort eine extreme Vielfalt unterschiedlicher Biographien zu finden ist und jedes Jahr einige Hundert neue Gefallene zugebettet werden. Ein ebender Friedhof, wenn man so will, über 70 Jahre nach Kriegsende.

Unser aller Aufgabe ist es, den Volksbund in seiner wichtigen Arbeit zu unterstützen. Ihm gebührt unser Dank für die Pflege der Gräber, die erhalten werden sollen als Mahnung an das, was im Zeitalter der Weltkriege geschah. Erhalten und gepflegt, wie das Grab meines Großvaters, Obergefreiter Herbert Klingenberg, gefallen im April 1944 bei einem amerikanischen Luftangriff auf Belgrad, aber eben auch wie jenes des SS-Hauptsturmführers und Kompaniechefs von Onkel Erwin.